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38 Prozent der Arbeiter wählen AFD: Abnehmende soziale Sicherheit verunsichert. Der Konflikt zwischen oben & unten wird von der Rechten umgedeutet in einen ethnischen Konflikt zwischen uns & Migranten

Autorenbild: Wolfgang LieberknechtWolfgang Lieberknecht

38 Prozent der Arbeiter haben bei der Bundestagswahl für die AfD gestimmt. Über die Gründe spricht Prof. Dr. Klaus Dörre.

Werra-Meißner – Die Prophezeiung von Karl Marx, die „Proletarier aller Länder“ mögen sich vereinigen, um den Kapitalismus zu stürzen, hat sich bekanntlich nicht erfüllt. 177 Jahre nach Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ ist Klassenkampf kein Thema. Sondern die Frage, warum bei der jüngsten Bundestagswahl 38 Prozent der Arbeiter ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben – einer Partei, von deren Wirtschaftspolitik vor allem Wohlhabende profitieren würden.


Als Soziologe hat Klaus Dörre die Schriften von Marx studiert. Der Konflikt zwischen oben und unten, sagt Dörre, werde von der Neuen Rechten umgedeutet in einen ethnischen Konflikt zwischen denen, die „schon zum Volk gehören“ und denen, die neu dazu kommen, also etwa Migranten. Diese Ideologie habe maßgeblich zum Wahlerfolg der AfD beigetragen. In Befragungen von Industriearbeitern unter anderem bei Volkswagen in Baunatal hat Dörre festgestellt, dass die Rechtsaußen-Partei im früheren SPD-Milieu immer mehr verfängt.


Doch nicht nur bei Arbeitern hat die AfD gepunktet. Die in Teilen rechtsextreme Partei wurde auch von erstaunlich vielen Menschen mit Migrationshintergrund gewählt. Und bei den Jung- und Erstwählern stimmte jeder Fünfte für die AfD. Woran liegt das? Im Interview erklärt Dörre, was die Menschen nach rechts treibt und warum er darin eine Gefahr für die Demokratie sieht.


Fest steht: Keine Partei hat so zugelegt wie die AfD. Haben die Abstimmungen beim Thema Migration der Partei genutzt?

Die AfD kann – völlig zu Recht – sagen, dass die Union auf ihre Positionen umgeschwenkt ist. Ob es um Grenzschließungen, Abschiebungen nach Afghanistan oder Aufnahmezentren für Flüchtlinge außerhalb der EU geht: Von der AfD hört man das seit längerem. Viele Wähler haben sich dann offenbar für das Original entschieden – statt für die Unionsparteien. In unseren Befragungen begegnen wir gerade im Osten immer wieder der Meinung: Die AfD ist doch das, was früher die CDU war.


Wie erklären Sie es sich, dass die Partei unter Industriearbeitern, dem ehemals klassischen SPD-Milieu, so stark abgeschnitten hat?

Ich forsche seit längerem über die Einstellung von Arbeitern im Automobil-Cluster um Zwickau und Chemnitz. Anders als in Industrieregionen Westdeutschlands sagen dort viele Arbeiter seit Jahren offen, dass sie die AfD wählen. Die Partei behauptet zum Beispiel, eine angebliche Planwirtschaft des VW-Konzerns sei für die Krise verantwortlich oder die etablierten Parteien würden das Erfolgsmodell des Verbrenners kaputt machen.


Auch in Baunatal sorgen sich VW-Beschäftigte wie in Zwickau um den Standort. Treibt sie diese Sorge zur AfD?

Wenn Sie als nordhessischer VW-Facharbeiter auf dem Land ein Haus bauen, dann rechnen Sie fest mit dem Einkommen. Da geht es gar nicht um die Furcht vor Arbeitslosigkeit. Aber eine Gehaltskürzung von zehn Prozent kann zu großen Problemen führen. In der Öffentlichkeit wird gern das Bild einer privilegierten Arbeiter-Aristokratie gezeichnet. Doch in unseren Befragungen unter VW-Beschäftigten in Nordhessen haben wir festgestellt, dass plötzlich für viele der eigene Lebensentwurf infrage gestellt wird. Das Aufkündigen der Beschäftigungsgarantie hat eingeschlagen wie eine Bombe. Die Menschen sind zutiefst verunsichert.


Im Dezember einigten sich der VW-Konzern mit der IG Metall und Betriebsräten auf den Erhalt der deutschen Standorte. Auch in Baunatal sind betriebsbedingte Kündigungen erst einmal vom Tisch. Warum machen offenbar trotzdem viele ihr Kreuz bei der AfD und nicht bei den gewerkschaftsnahen Sozialdemokraten?

Nordhessen ist schon lange keine SPD-Hochburg mehr. Und auch bei VW gibt es Zweifel am Versprechen, dass soziale Verantwortung, Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz durch Betriebsräte im Sinne der Arbeitnehmer organisiert werden können. Hinzu kommt, dass viele Industriearbeiter, die früher rot gewählt haben, bei ihren Moralvorstellungen, ihren Lebensentwürfen relativ konservativ eingestellt sind. Für sie zählen Werte wie die Familie. Das eigene Haus steht für den Traum vom guten Leben.


Für solche Werte steht auch die CDU.

Der entscheidende Punkt bei der AfD ist, dass sie suggeriert, wir könnten weitermachen wie bisher. Die Klimakrise ist für Björn Höcke nicht mehr als „Klimagedöns“. Der Verbrenner sei doch sauber und solle uns bloß madig gemacht werden. Das ist ein scheinrebellisches Argument gegen die da oben, also auch gegen die angeblichen Gewerkschaftsbonzen. Man versucht anzudocken an den Frust am Hallenboden. Dabei will die AfD freigestellte Betriebsräte abschaffen und auch die Sozialpartnerschaft in der jetzigen Form.

Auffallend ist, dass die AfD auch von Menschen mit Migrationshintergrund gewählt wurde. Und das, obwohl die Partei mit dem umstrittenen Slogan „Remigration“ Wahlkampf gemacht hat. Wie kann das sein?

In migrantischen Kreisen gilt oft: Wer es geschafft hat, rechnet sich zu den Leistungsträgern oder zu den „guten Deutschen“. Mit Sozialhilfeempfängern oder Kriminellen will man nichts zu tun haben. Das lässt sich beschreiben als Selbstaufwertung durch die Abwertung anderer. Das Motto ist: Wir sind anders als die, die Messerattentate begehen oder sich nicht benehmen können. In der türkischen Community mögen für den AfD-Erfolg auch Sympathien mit dem konservativen Weltbild von Erdogan eine Rolle gespielt haben. Aber es ist wichtig zu differenzieren. Migranten sind nicht gleich Migranten.

Bei der Präsidentschaftswahl in den USA wurde Donald Trump auch von vielen Latinos und Afroamerikanern gewählt. Sehen Sie Parallelen?

Die Mechanismen sind ähnlich. Trotz massiver Investitionen von Joe Biden zur Bekämpfung der Inflation haben hohe Energie- und Lebensmittelpreise die Arbeiterschaft und Geringverdiener hart getroffen. Viele von ihnen haben in den USA, wie auch bei uns, eine Einwanderungsgeschichte. Wenn rechte Medien dann von einem gestohlenen Arbeiterstolz reden, dann spricht das auch viele Migranten an. Figuren wie Trump oder Parteien wie die AfD behaupten, den hart arbeitenden Menschen ihren Stolz zurückzugeben. Tatsächlich machen sie Politik für die Wohlhabenden.

Erkennen Sie ein wiederkehrendes Muster bei populistischen Parteien?

Definitiv, und zwar weltweit. Oben-Unten-Konflikte werden umdefiniert in Innen-Außen-Konflikte. Statt um Verteilungsfragen zwischen Arm und Reich soll es aus ihrer Sicht darum gehen, wer zu einem bestimmten Volk gehört und wer nicht. Man kann von einer Ethnisierung der sozialen Frage sprechen.

Neben Arbeitern und Migranten haben auch viele Jungwähler für die AfD gestimmt. Warum?

Studien zeigen, dass unter jungen Menschen das Thema Sicherheit eine viel größere Rolle spielt als früher. Da geht es sowohl um innere Sicherheit als auch um soziale Sicherheit. Und je unsicherer die eigene Lage ist, desto mehr klammert man sich an Vertrautes, an traditionelle Werte wie Familie oder alte Rollenbilder. Die AfD versucht, sich als bürgerlich-konservative Kraft zu inszenieren – durchaus mit Erfolg.

Bei den Unter-25-Jährigen kam die AfD auf 21 Prozent.


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Zur Person


Prof. Dr. Klaus Dörre (67) gilt als einer der renommiertesten Soziologen Deutschlands. Seit 2005 ist er Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im April wechselt Dörre, der aus Volkmarsen-Külte stammt, an die Uni Kassel. Dort wird er als Gastprofessor am Institute for Sustainability lehren. Dörre ist verheiratet und hat einen Sohn. Er wohnt in Jena.





 
 
 

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