IMI-Analyse 2023/22: Mitte Juni 2023 wird es laut über Deutschland. Die Bundeswehr, die US Luftstreitkräfte und 23 weitere Verbündete planen die größte Luftwaffenverlegeübung seit Bestehen der NATO.[1] Zentrum des folgenden Luftwaffenmanövers werden drei Lufträume über Deutschland sein. An den „drei Hauptdrehkreuzen“ im niedersächsischen Wunstorf, in Jagel und Hohn in Schleswig-Holstein und in Lechfeld in Bayern haben die praktischen Vorbereitungen längst begonnen.[2] Neben knapp 100 Kampf-, Tank- und Transportflugzeugen der Luftwaffenreserve (Air National Guard)[3] aus den USA werden über 100 weitere Militärflugzeuge aus 23 europäischen Staaten sowie ein Flugzeug aus Japan beteiligt sein.[4]
von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 15. Mai 2023
Informationsstelle Militarisierung (IMI) » Cartoons gegen Krieg und Aufrüstung (imi-online.de) Massive Belastung im deutschen Luftraum Die zentralen Übungslufträume befinden sich über der Nord- und Ostsee sowie über dem Norden, Nordosten und Südwesten Deutschlands.[5] Dort sollen vom 12. bis 23. Juni täglich jeweils rund 40 bis 80 Militärmaschinen zu übungsweisen Luftkriegsoperationen aufsteigen.[6] Insgesamt sind rund 250 sogenannte „Sorties“, also militärische Flugbewegungen, pro Tag geplant. Um dieses massive Aufkommen von Militärflügen überhaupt umsetzen zu können, werden die drei Übungslufträume für den zivilen Luftverkehr täglich mindestens vier Stunden vollständig gesperrt. Die zivile Luftfahrt rechnet auch an großen Flughäfen wie Hamburg, Berlin, München und Stuttgart mit deutlichen Einschränkungen und manöverbedingten Flugverspätungen.[7] Die Anwohner*innen der betroffenen Luftwaffenbasen und Übungsräume müssen darüber hinaus mit massivem Fluglärm der Kampfjets rechnen. Über Mecklenburg-Vorpommern sowie an den Luft-Boden-Schießplätzen der Bundeswehr in Bergen in Niedersachsen und Grafenwöhr in Bayern, kommen durch das verstärkte Aufkommen von Tiefflügen besondere Belastungen hinzu.[8] Daher schwört die Luftwaffe die Anwohner*innen bereits darauf ein, dass sie den massiven Fluglärm der übenden Kampfjets doch bitte als Beitrag zur militärischen Sicherheit Deutschlands ertragen sollten. Übung für Artikel-5-Szenario Sicherheit für Deutschland bedeutet in dieser Logik ein Übungsszenario, in dem Luftkriegsoperation nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, also für einen Krieg der NATO mit Russland in Europa, trainiert werden. Die Luftstreitkräfte der NATO gelten in solch einem Kriegsfall als „Kräfte der ersten Stunde“, weil sie innerhalb von wenigen Minuten bis einigen Stunden und damit deutlich schneller als Land- und Seestreitkräfte, in die Kämpfe eingreifen könnten. Dem entsprechend soll die Verlegung von rund 100 US Militärflugzeugen über den Atlantik nach Deutschland und in angrenzende Staaten innerhalb von wenigen Stunden vollzogen werden. Deutschland wird während Air Defender 23 in der Luft übungsweise zu dem, was es auch in einem Kriegsfall wäre – Logistikknoten und Zwischenstation für NATO-Kampftruppen, die von Westen nach Osten ziehen. Während ein Großteil der Luftkriegsübungen über Deutschland und der Nordsee stattfinden werden und die Flugzeuge der Verbündeten in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Polen und Tschechien stationiert sein werden, sind im Rahmen des Manövers auch tägliche Hin- und Rückflüge nach Estland und Rumänien vorgesehen. Die übenden NATO-Jets fliegen also bis an die unmittelbare Ostgrenze des Bündnisgebietes.[9] Manöver in angespannten Zeiten – seit 2018 in Planung Der Inspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, brüstet sich damit, dass er bereits seit seiner Amtseinführung 2018 an einem entsprechenden Großmanöver plane. In 2019 startete die Luftwaffe eine kleinere Übungsserie für einen von der Bundeswehr geführten multinationalen Luftwaffengroßverband (Multinational Air Group / MAG). Nach Abstimmungen mit den USA wurde 2021 die Integration einer Verlegeübung der US-Luftwaffenreserve und die Namensgebung Air Defender 2023 beschlossen.[10] Neben der Zusammenziehung von über 200 Militärflugzeugen soll das deutsche Zentrum Luftoperationen im nordrhein-westfälischen Kalkar während Air Defender 2023 unter Beweis stellen, dass es in der Lage ist, Luftwaffenverbände dieser Größenordnung zu führen. Ziel ist die Zertifizierung als Joint Air Force Component Command der NATO – also als bündnisgemeinsames Kommando für Großverbände der Luftstreitkräfte. Auf diese deutsche Führungsrolle ist Gerhartz deutlich stolz. So betonte er in einem Interview: „Es ist eine Übung, wo die NATO unterstützt. Aber es ist eine deutsch geführte Übung.“[11] Die Pläne für Air Defender 2023 stammen noch aus der Zeit vor der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022. Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist damit nicht ursächlich für die bevorstehenden massiven Luftkriegsspiele. Neben dem gestiegenen Umfang – die Zahl der Teilnehmerstaaten wurde im letzten Jahr von 18 auf 24 aufgestockt – lässt sich auch die Wirkung des Manövers allerdings nicht ohne die Betrachtung der prekären Sicherheitslage in Europa bemessen. So werden die übungsweise Mobilisierung von fast 100 Militärflugzeugen und mehreren tausend Soldat*innen der US-Luftwaffenreserve nach Europa und die dortigen Luftkriegsübungen mit Flügen bis an die Grenzen zu Russland, Belarus und der Ukraine in Moskau wohl kaum als Zeichen der Deeskalation vonseiten der NATO gewertet werden. Russland als Adressat Wenig auf Entspannung bedacht zeigen sich auch die beiden für das Luftwaffenmanöver maßgeblich verantwortlichen Generäle. Auch wenn Russland in den offiziellen Dokumenten zu Air Defender 2023 nicht genannt wird und das Manöver laut der Bundesregierung auf einem „rein generischen Szenario“ basiert,[12] machten der deutsche Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz und der Chef der US Air National Guard Michael A. Loh bereits an anderen Stellen deutlich, gegen wen sich das Manöver richtet. Schon 2021 legte Loh seine Motivation für die Teilnahme dar: „Ich möchte, dass [meine Leute] anfangen, mehr über unsere drohenden Gefahren – China und Russland – nachzudenken und versuchen, sie auf diese Standards zu bringen. […] Was bedeutet es, unter den Kommandostruktur der NATO zu stehen und wie operieren wir eigentlich innerhalb der NATO?“[13] Luftwaffeninspekteur Gerhartz drückte es so aus: „Mit der Übung Air Defender zeigen wir, dass die Luftwaffe das erste militärische Mittel in einer Krise ist. […] Wir können sehr schnell, in Stunden, Kräfte aus den USA nach Deutschland verlegen und so für eine glaubhafte Abschreckung sorgen.“[14] Damit wiederholt sich das bereits seit Jahren vollzogene Muster von gegenseitigen militärischen Muskelspielen und Drohgebärden in einem höchst unsicheren Umfeld auf immer konfrontativere Weise. Währenddessen kommt es bereits im Regelbetrieb immer wieder zu gefährlichen Situationen in den Lufträumen entlang der NATO-Grenzen, wenn sich dort russische und NATO Kampfjets gefährlich nahe kommen. Allein im vergangenen Jahr kam es laut NATO zu 570 solchen Vorfällen und damit zu doppelt so vielen wie im Vorjahr.[15] Jeder dieser Vorfälle birgt die Gefahr in sich, bei einem tatsächlichen Zusammenstoß zu einer ungewollten Eskalation zu führen. Konfrontation statt Rückversicherung Trotz alledem werden bisher gängige Formen der gegenseitigen Rückversicherung zwischen NATO und Russland bei Großmanövern im Rahmen von Air Defender 2023 einfach missachtet. Eine formale Benachrichtigung Russlands halten der deutsche Luftwaffeninspekteur und der Chef der US Air National Guard nicht für nötig. Bei einem Pressetermin Anfang April auf der Joint Base Andrews bei Washington sprach Gerhartz sichtlich stolz darüber, dass er einem Reporter am Vortag auf die Frage nach der Informationspolitik gegenüber Russland geantwortet habe: „Wir werden ihnen [Russland] keinen Brief schreiben. Sie werden die Nachricht schon erhalten/verstehen, wenn unsere Flugzeuge ausschwärmen.“[16] Auf diese bewusste Doppeldeutigkeit im englischen Original reagiert der US General Loh vor laufenden Kameras mit einem breiten Grinsen. Bei dieser Provokation handelt es sich allerdings nicht bloß um einen unnötig provokativen Stil. Bisher war es gängige Praxis, dass NATO-Staaten ihre Manöver auf formalem, diplomatischem Wege ankündigten und Einladungen an Militärbeobachter, auch aus Russland und Belarus, aussprachen. Diese Praxis diente der gegenseitigen Versicherung, dass die Militärübungen zwar dem gegenseitigen Muskelspiel und der Abschreckung, nicht aber der Vorbereitung eines Angriffs dienten. In der aktuellen Phase der militärischen Konfrontation in der Ukraine auf diese Kommunikationsformen zu verzichten, ist hochgradig gefährlich. Proteste sind bereits angekündigt Um die Kritik am Großmanöver Air Defender 2023 auch am Ort des Geschehens sichtbar zu machen, mobilisiert die Friedensinitiative Neustadt/Wunstorf am 10. Juni 2023 um 11:55 (fünf vor Zwölf) zu einer Demonstration am Fliegerhost Wunstorf bei Hannover.[17] Zudem soll dort während des Manövers vom 12. bis 23. Juni täglich eine Mahnwache stattfinden. Vermutlich werden sich auch an anderen Standorten noch Proteste formieren. Anmerkungen [1] Bundeswehr: Übung – Air Defender 2023, o.D., bundeswehr.de. [2] Beispielhaft für Jagel und Hohn in Schleswig-Holstein: NDR: Luftwaffen-Großübung Air Defender in SH – Die Vorbereitungen laufen, 04. April 2023, ndr.de. [3] Die rund 100 Militärflugzeuge aus den USA werden nicht von der von US Air Force, sondern von der Air National Guard gestellt. Dabei handelt es sich um Luftwaffenreservetruppen, die unter der Flagge der US-Bundesstaaten fliegen und von deren Gouverneuren z.B. nach Naturkatastropen eingesetzt werden kann. Darüber hinaus kann der US Präsident die Air Natinal Guard im Krigsfall unter sein Kommando rufen und weltweit in den Einsatz schicken. So waren Soldat*innen der Air National Guard beispielsweise an den Kriegen im Irak und in Afghanistan zu Tausenden beteiligt. Mit rund 100.000 Angehörigen und 1.300 Flugzeugen ist die Air Natinal Guard um ein vielfaches größer als die gesamte Luftwaffe der Bundeswehr. Die Angehörigen der Air National Guard sind zu großen Teilen keine Vollzeitsoldat*innen, sondern sogenannte Militsoldat*innen. Neben einem zivilen Job absolvieren ein gewisses Kontingent an Wochenendübungen und einer Großübung im Jahr, um sich an den jeweilgen Waffensysteen fit zu halten. Für 46 Einheiten aus 36 US-Bundesstaaten wird Air Defender eben diese Großübung für das Jahr 2023 sein. [4] Bundeswehr: Übung – Air Defender 2023, o.D., bundeswehr.de. [5] Detailierte Informationen zu den Übungslufträumen finden sich unter: Bundeswehr: Übung – Air Defender 2023, o.D., bundeswehr.de.; Luftwaffe, Zentrum Luftoperationen: Vorübergehende Einrichtung von Gebieten mit Flugbeschränkungen anlässlich der Militärübung „Air Defender 2023“, 09.02.23, abrufbar unter: daec.de und Deutscher Bundestag: Drucksache 20/6293, Kleine Anfrage: Air Defender 2023 – Die Luftkriegsübung über Deutschland, 31.03.23, bundestag.de. [6] Bundeswehr: Fact Sheet Air Defender 2023, o.D., bundeswehr.de. [7] Hamburger Morgenpost: Mega-Militärmanöver – Wo Urlauber bald starke Nerven brauchen, 08.05.23, morgenpost.de. [8] Deutscher Bundestag: Drucksache 20/6293, 31.03.23, bundestag.de. [9] Bundeswehr: Übung – Air Defender 2023, o.D., bundeswehr.de. [10] Bundeswehr: Air Defender 2023 – Jahre der Vorbereitung, um 200 Flugzeuge in die Luft zu bekommen, 28.03.23, bundeswehr.de. [11] Deutsche Welle: Die NATO übt Reaktionsfähigkeit ihrer Luftstreitkräfte bei einer Krisensituation, 08.04.23, abrufbar via youtube.com. [12] Deutscher Bundestag: Drucksache 20/6293, 31.03.23, bundestag.de. [13] Defence News: Germany, US plan major aerial drill to defend Europe, 05.11.21, defensenews.com. (Übersetzung MK) [14] Hamburger Morgenpost: Mega-Militärmanöver – Wo Urlauber bald starke Nerven brauchen, 08.05.23, morgenpost.de. [15] Redaktionsnetzwer Deutschland: Nato fängt in 570 Fällen russische Jets ab – doppelt so viele wie im Vorjahr, 14.02.23, rnd.de. [16] Defense Now: National Guardsmen Reveal Their Big Secret on Air Defender ’23 Media Day!, Minute 4, 05.04.23, Abrufbar via: youtube.com. (Übersetzung des Autors) [17] Friedenskooperative: Demo gegen Nato-Manöver Air Defender 23, o.D., friedenskooperative.de.
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