Gestern Nachmittag (16.12.24) durfte ich als Sachverständiger in der Öffentlichen Anhörung des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags Stellung nehmen zum Artikelgesetz Zeitenwende. Eingeladen worden war ich als Co-Sprecher des Bundesauschusses Friedensratschlag von der Gruppe Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im Bundestag. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur weiteren Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft und zur Änderung von Vorschriften für die Bundeswehr“ (20/13488) soll noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden.
Neben mir nahmen 6 weitere Sachverständige an der Anhörung teil:
Andreas Eggert, Bund Deutscher Einsatzveteranen e.V.
Christoph Huber, Brigadegeneral, Panzerbrigade 45
Dr. Gerd Landsberg, Ehrengeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Mitglied im Beirat Innere Führung
Alfons Mais, Genreralleutnant, Inspekteur des Heeres,
Prof. Dr. Carlo Masala, Universität der Bundeswehr München
André Wüstner, Oberst, Vorsitzender des Bundeswehrverbands e.V.
Hier die schriftlichen Stellungnahmen von Landsberg, Henken, Mais, Huber und Wüstner
Stellungnahmen
Hier der offizielle gesamte Mitschnitt der Anhörung:
Hier noch zusätzlich zwei Skripte mit den Nachfragen der Abgeordneten Zaklin Nastic (BSW) und meine Antworten darauf.
Frage 1 Zaklin Nastic:
Wie inzwischen öffentlich berichtet, sollen ab 2030 94 Kampfpanzer Leopard 2 A8 in Litauen stationiert werden. Die Hälfte davon aus Deutschland. Diese sollen an der neuralgischen Stelle zwischen der NATO und Russland stationiert werden: dem Suwalki-Korridor nach Kaliningrad (esut, 24.10.24).
Wie bewerten Sie die Stationierung von Leopard 2 Kampfpanzern an dieser militärisch sensiblen Stelle und sehen Sie eine Perspektive aus diesem Aufrüstungswahnsinn herauszukommen?
Ich hatte in meinem Eingangsstatement dargelegt, dass aufgrund der herrschenden militärischen Überlegenheit allein der europäischen NATO-Saaten ohne die USA eine Stationierung der Brigade grundsätzlich nicht notwendig ist.
Zusammen mit einem litauischen Panzerbataillon stellen die etwa 100 hochmodernen deutschen Kampfpanzer nahe der weißrussischen Grenze für Russland eine erhebliche Bedrohung dar, die aus russischer Sicht bi-direktional eingesetzt werden können, sowohl gegen Belarus als auch gegen die russische
Exklave Kaliningrad. Darüber hinausgehende NATO-Maßnahmen müssen die russischen Befürchtungen noch verstärken:
- Die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die NATO, der jeweils Abkommen über den Truppenaufenthalt der USA in diesen Ländern folgte,
- die Präsenz ausländischer NATO-Verbände im Baltikum,
- der Aufbau einer polnischen Infanteriedivision mit vier Brigaden mit schweren Panzern aus den USA und Südkorea an der litauisch-weißrussischen Grenze und
- die permanente Präsenz von US-Truppen in Polen.
Russland hat militärisch reagiert, den Militärbezirk West nach 2010 wieder aufgelöst und in Sankt-Petersburg und Moskau unterteilt, taktische Atombomben an Flugzeugen in Weißrussland stationiert und angedroht, in Weißrussland die neue Hyperschallrakete Oreschnik stationieren zu wollen. Der Oblast Kaliningrad wird militärisch weiter aufgerüstet.
Dass heißt, die Präsenz deutscher und anderer NATO-Truppen mit schwerem Gerät entlang der NATO-Ostgrenze führt nicht zur Entspannung, sondern im Gegenteil erhöht die Spannungen, versetzt eine Aufrüstungsspirale in immer neue Umdrehungen. Wenn das nicht gestoppt wird, droht in Europa die
Katastrophe.
Sie fragten, wie man da herauskommt? Indem im Westen der Pfad der Kriegslogik verlassen und der Weg
der Friedenslogik beschritten wird. Konkret bedeutet es: auf erprobte Verfahren des Kalten Krieges zurückkommen: vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle und Abrüstung inklusive der diversen Verifikationsverfahren.
Anknüpfungspunkte für eine Lösung finden sich für mich im Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik von Oberst a.D. Wolfgang Richter1, das er 2019 verfasste. Darin bricht Richter eine Lanze für das im adaptierten
KSE-Vertrag vorgesehene sub-regionale Stabilitätsregime. Dieser A-KSE-Vertrag ist leider nicht in Kraft. Dabei geht es um Truppenbegrenzungen in festzulegenden Gebieten beiderseits der Grenze NATO-OVKS. Richter steht mit diesem Vorschlag nicht allein. Auch der frühere Generalinspekteur Harald Kujat plädierte zuletzt Anfang des Jahres für einen aktualisierten KSE-Vertrag über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte mit neuen Flankenregelungen, 2 die er insbesondere auf die baltischen Saaten anwenden möchte.
1 Wolfgang Richter, Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa, SWP-Studie Juli 2019, 48 Seiten
Frage 2 Zaklin Nastic :
Bereits seit 2017 sind im Wechsel Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Litauen im Einsatz. Das Prinzip der Rotation wurde auch vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Abkommen praktiziert.
Wie bewerten Sie die Errichtung einer deutschen Garnisonsstadt in Litauen vor dem Hintergrund völkerrechtlicher Absichtserklärungen zwischen Russland und den Nato-Staaten?
Sie spielen auf die Zurückhaltungsverpflichtungen aus der NATO-Russland-Grundakte von 1997 und der KSE-Schlussakte von 1999 an. Die Erklärung beinhaltete, dass die Vertragsseiten sich verpflichteten, keine zusätzlichen „substanziellen Kampftruppen“ ständig zu stationieren. Die NATO hatte die vier neuen NATO-Mitglieder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn dabei im Auge. Russland bezog sich in der fast gleichlautenden Istanbuler Erklärung auf die Exklave Kaliningrad und die Region Pskow, die an Estland und Lettland grenzt. Die Verpflichtungen umfassten die fünf schweren Waffenkategorien von Heer und Luftwaffe des KSE-Vertrages. Sie wurden in der Erwartung abgegeben, dass der Angepasste KSE-Vertrag (A-KSE) mit territorialen Obergrenzen in Kraft trat. Das geschah leider nicht, aber an die Zurückhaltungserklärungen hielten sich die Saaten trotzdem.
Ein Manko der Erklärung war jedoch, dass sich die Staaten nicht auf eine Definition der Stärke von „substanziellen Kampftruppen“ einigen konnten. Der schon erwähnte Oberst Wolfgang Richter vertrat damals die deutsche Position und beschreibt, dass die Seiten sich in informellen Gesprächen in der
Gemeinsamen Beratungsgruppe der Größenordnung einer Brigade als Obergrenze angenähert hatten.3
Die acht NATO-Battlegroups der multinationalen Kampfverbände hielten sich an diese informellen Obergrenzen und ließen ihre Truppenteile routieren, um somit dem Vorwurf der permanenten Stationierung zu begegnen.
Mit dem Beschluss der Bundesregierung, die deutsche militärische Präsenz in Litauen auf Brigadestärke zu erweitern, kratzt die Bundesregierung an der selbstgesteckten Obergrenze, bricht jedoch die Zurückhaltungserklärungen der NATO-Russland-Grundakte, der Istanbuler Erklärung und der KSE-Schlussakte in Wort und Tat, indem sie eine dauerhafte Stationierung beschlossen hat.
Das ist der deutsche Sargnagel für dieses Vertragswerk, das einst einen Raum gemeinsamer und gleicher Sicherheit ohne Trennlinien schaffen wollte. Kein Staat und kein Bündnis sollte eine Vorrangstellung für die Gestaltung der Sicherheit Europas oder privilegierte Einflusszonen beanspruchen oder die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern erhöhen. Vielmehr sollten die Staaten die Sicherheitskooperation stärken und gegenseitig ihre Sicherheitsinteressen berücksichtigen.
Noch ist es nicht zu spät, zu diesen Prinzipien zurückzukehren. Der eingeschlagene Weg der militärisch definierten Zeitenwende ist aus meiner Sicht der falsche.
2 Harald Kujat, „Der Westen sollte sich nicht länger Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes aufbürden“
Zeitgeschehen im Fokus Nr. 2/3, 14. 2. 2024, S. 4 bis 8, S. 6. https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-2-3-
vom-14-februar-2024.html#article_1633
3 Richter S. 39
Lühr Henken ist Ko-Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag (www.Friedensratschlag.de), Herausgeber der Kasseler Schriften zur Friedenspolitik (https://jenior.de/produkt-kategorie/kasseler-schriften-zur-friedenspolitik/) und arbeitet mit in der Berliner Friedenskoordination (http://www.frikoberlin.de/)
Comments