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AutorenbildWolfgang Lieberknecht

Chilen:innen lehnen mehrheitlich die erste basisdemokratisch erarbeitete Verfassung ab

62 Prozent der Wahlberechtigten stimmen gegen die Reform. Das Wahlergebnis ist ein herber Rückschlag für die politische Linke und die linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric, die mit aller Macht versucht haben, Chile zum "Grab des Neoliberalismus" zu machen. Boric lädt alle politischen Parteien zur Zusammenarbeit ein, um gemeinsam einen neuen Verfassungsprozess in Gang zu bringen.

Von Malte Seiwerth, Santiago de Chile amerika21

Chile beim Wählen - trotz Fahrrad und Jugend wurde auch an dieser Wahlurne die neue Verfassung abgelehnt Quelle:Malte Seiwerth Lizenz:Creative Commons


Santiago. Autokorsos in den wohlhabenden Vierteln der Hauptstadt: Es ist lang her, dass die reiche und meist rechte Bevölkerung der Oberschichtviertel gefeiert hat. Nun sei "Chile vom Kommunismus" befreit, heißt es dort. Denn deutlich lehnte am Sonntag eine Mehrheit von knapp 62 Prozent den Entwurf für eine neue Verfassung ab.

"Die Intoleranz, der Fanatismus und der Geist der Neugründung des Landes wurden heute besiegt", sagte der Sprecher der "Amarillos por Chile", Christian Warnken, gegenüber den Medien.

Mit der neuen Verfassung sollten soziale Rechte eingeführt, feministische Grundsätze in den Aufbau des Staates übernommen und das Land in einen plurinationalen Staat verwandelt werden. All dies ist nun auf vorerst vorbei.

"Es war eine große Vereinfachung der Realität zu denken, die chilenische Bevölkerung würde einen radikalen Wandel wünschen, doch so war es seit Oktober 2019", meint der Anwalt und Kolumnist Carlos Peña in El País.

Das Wahlergebnis ist ein herber Rückschlag für die politische Linke und die linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric, die mit aller Macht versucht haben, Chile zum "Grab des Neoliberalismus" zu machen. Gegen diesen Reformwillen stemmte sich eine breite Koalition aus rechten Parteien und wichtigen politischen Figuren der ehemaligen Mitte-Links Regierungskoalition Concertación, die sich entgegen der Entscheidung ihrer Parteien gegen die neue Verfassung stellten. Mit dem Wahlsieg sei auch die "ideologische, radikale Linke" besiegt worden, meint der ehemalige rechte Abgeordnete des Verfassungskonvents, Christian Monckeberg, gegenüber den Medien.

Schon vor der Wahl sagten alle Umfragen einen Sieg des gegnerischen Lagers voraus. Allerdings lag die Hoffnung der Befürworter:innen darin, dass die erstmals wieder eingeführte obligatorische Wahlteilnahme mit automatischer Einschreibung im Wahlregister eine Voraussage erschweren würde. Doch anstatt das Ergebnis dadurch ihn Richtung einer Zustimmung zur neuen Verfassung zu bewegen, geschah genau das Gegenteil: die Umfragen sagten einen Wahlsieg von etwa 55 Prozent für das Gegner:innenlager voraus, das tatsächliche Ergebnis liegt jedoch sogar sieben Prozentpunkte weiter rechts.

Während manche die Gründe der Wahlschlappe hinter einer breit angelegten Desinformationskampagne sehen, gehen andere davon aus, dass der Reformwillen des Verfassungskonvents tatsächlich zu radikal war. Am Abstimmungsabend erklärte Präsident Boric in einer Ansprache: "Die chilenische Bevölkerung hat gesagt, dass sie nicht mit dem Entwurf einverstanden ist. Man verlangt von uns mit mehr Eifer, Dialog, Respekt und Zuneigung an einer neuen Verfassung zu arbeiten."

Der Präsident selbst lud gleich nach Bekanntwerden der ersten Abstimmungsergebnisse alle Parteien zu einer Sitzung am Montag ein. Ziel sei es, einen neuen verfassungsgebenden Prozess anzustoßen. Denn, so die Interpretation, mit der Abstimmung sei nur dieser eine Verfassungsentwurf abgelehnt worden. Da aber im Oktober 2020 einer deutliche Mehrheit von knapp 80 Prozent gegen die aktuelle Verfassung und für eine neue gestimmt hätten, sei der Auftrag klar: Weiterhin muss eine neue Verfassung ausgearbeitet werden.

Wie das stattfinden soll, ist aber derzeit unklar. Schon jetzt lehnten die rechten Parteien die Einladung zur gemeinsamen Sitzung ab.



Chiles Verfassungsentwurf: Ein Beitrag für den Weltfrieden

Beschluss der Mitgliederversammlung der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA )


Verfassungsentwurf in Chile vorgelegt

Neoliberaler Staat soll durch das Modell eines "sozialen und demokratischen Rechtsstaates" ersetzt werden. Prinzipien der Plurinationalität und des Naturschutzes nehmen großen Raum ein

Von Julia Liebermann amerika21

boric_verfassungsentwurf.jpg Präsident Gabriel Boric nahm am Montag den Verfassungsentwurf entgegen Quelle:Gabriel Boric Santiago. Der Verfassungskonvent in Chile hat den lang erwarteten Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt. Dem Entwurf waren zwölf Monate Beratungen unter Einbeziehung von Vorschlägen aus der Gesellschaft vorangegangen. Über den Text des Grundgesetzes wird am 4. September in einem landesweiten und obligatorischen Plebiszit abgestimmt. Am Montag wurde der finale Text bei einer offiziellen Zeremonie dem amtierenden linken Präsidenten Gabriel Boric vorgestellt. Die Übergabe des Verfassungsentwurfs an Boric und das offizielle Ende der Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung wurden von Kundgebungen und Mobilisierungen verschiedener Gruppen im ganzen Land begleitet. Nach der abschließenden plenaren Sitzung des Verfassungskonvents erklärte Tammy Pustilnick, eine der Koordinator:innen des Konvents: "Wir sind mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Von den 538 Anträgen für Konkretisierung, über die im Plenum abgestimmt werden musste, wurden nur vier für die ständigen Artikel abgelehnt, so dass wir sagen können, dass der Harmonisierungsausschuss seine Aufgabe erfüllt hat." Man werde einen "kohärenten, systematisierten und klar formulierten Text für die Volksabstimmung vorlegen". Der Entwurf enthält neben Kapiteln zur Gewaltenteilung u.a. auch Kapitel zu Natur und Umwelt, demokratischer Beteiligung, guter Regierungsführung und öffentlichem Dienst und zur regionalen staatlichen und territorialen Organisation. Vor allem territoriale und kulturelle Fragen und eine Neuorganisation staatlicher Institutionen in Bezug auf das Wahlrecht, die Einrichtung von Regionalkammern statt eines Senats und eine mögliche Auflösung der umstrittenen Carabineros de Chile, waren in den vergangenen Monaten stark diskutiert worden (amerika21 berichtete). Der erste Artikel des Textes definiert Chile als "sozialen und demokratischen Rechtsstaat", der "multinational, interkulturell, regional und ökologisch" ist. Als wichtiger neuer Verfassungsgrundsatz wird in dem Entwurf festgehalten, den derzeitigen "subsidiären" neoliberalen Staat durch ein Modell eines Rechtsstaats zu ersetzen, in dem sich der Staat aktiv für das Wohlergehen der Menschen einsetzt und der die Pluralität Chiles anerkennt. In den zwei Monaten bis zum Plebiszit haben Chilen:innen jetzt Zeit sich über die Inhalte des neuen Verfassungstextes zu informieren. "Der 4. September wird ein historischer Tag sein, unabhängig vom Ausgang des Plebiszits. Deshalb arbeiten wir daran und werden dies auch weiterhin tun, sicherzustellen, dass die Abstimmung in Kenntnis der Sachlage erfolgt", sagte Ministerin Camila Vallejo dazu auf einer Veranstaltung. Dort stellte sie als Abschluss der ersten Phase der Informationskampagne ein Video der Regierung vor, das über den Prozess der Erarbeitung, die Verfassungsgeschichte und den Inhalt des neuen Textes informiert. Unterstaatssekretärin Valeska Naranjo erklärte, dass in der ersten Phase der landesweiten Informationskampagne insgesamt 118 Informationsmodule eingerichtet wurden. "Das Plebiszit ist für alle Wahlberechtigten obligatorisch. Mit der Verabschiedung des Verfassungstextes beginnt nun eine neue Etappe, und als Regierung rufen wir dazu auf, sich über zuverlässige Quellen zu informieren", fügte Naranjo hinzu. Vor diesen Kampagnen haben soziale Bewegungen und unabhängige Medien bereits frühzeitig angefangen, Strategien für die Information über den Verfassungsentwurf zu entwickeln. Ihnen kommt auf Grund der konservativ dominierten Medienlandschaft und vor dem Hintergrund eines anhaltenden Misstrauens in die Regierung eine besondere Rolle zu. Die verfassungsgebende Versammlung wurde im Oktober 2019 nach dem sozialen Aufstand initiiert. Aufgabe des Konvents war es, einen Entwurf zu erarbeiten, der die aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammenden neoliberalen Verfassungsnormen ersetzt und die rechtliche Grundlage für weitere soziale Transformationsprozesse ändert. Die Versammlung war paritätisch besetzt, hatte eine festgelegte Anzahl von Sitzen für indigene Vertreter:innen und umfasste mehrheitlich Personen ohne traditionellen parteipolitischen Hintergrund. In den vergangenen Monaten hatten die Rechte und die alte Oligarchie mit Unterstützung der Medien kräftig mobilisiert und mit Desinformationskampagnen massiv Stimmung gegen die neue Verfassung gemacht (amerika21 berichtete). Beobachter:innen glauben, dass sie, wenn sie schon innerhalb des Konvents keine Chance auf Einflussnahme auf den Inhalt des Textes durch eine Sperrminorität geltend machen konnten, jetzt versuchen werden, den Prozess im letzten Schritt, dem Plebiszit, zu kippen. Sollten die Chilen:innen am 4. September für die Annahme des neuen Verfassungstextes stimmen, wäre dies ein historisches Ereignis für das Land. Nicht nur wegen der relativ progressiven Artikel der Verfassung, sondern vor allem auch wegen dem Druck von der Straße zum Start des verfassungsgebenden Prozesses und der Art, wie die Verfassung erarbeitet wurde.



„ES WAR EIN HARTER KAMPF“

Interview mit der Verfassungsdelegierten Manuela Royo



Am 4. Juli hat der Verfassungskonvent seinen fertigen Entwurf für eine neue Verfassung offiziell an Chiles Präsidenten Gabriel Boric übergeben. Am 4. September stimmen die Chilen*innen in einem verpflichtenden Referendum darüber ab. Die LN sprachen mit der Verfassungsdelegierten Manuela Royo über die Arbeit des Konvents, Umweltaspekte im Verfassungsentwurf und ihren Blick auf das Referendum.

Interview und Übersetzung: Ute Löhning, Susanne Brust & Martin Schäfer



Manuela Royo (Foto: privat) Das vergangene Jahr über haben Sie an der neuen Verfassung gearbeitet. Wie bewerten Sie diese Arbeit heute? Wir haben viel geschafft, finde ich! Wir haben nicht nur eine neue Verfassung geschrieben, sondern den Konvent auch zu einer Plattform der politischen Debatte gemacht. Denn wir wurden nicht gewählt, um uns um Machtpositionen zu streiten. Es ging nicht ums Regieren wollen, im Gegenteil: Wir wollen ein gerechteres Chile und in einer besseren Gesellschaft leben.

Und wie setzt man das in einer Verfassung um? In einer Verfassung geht es letztendlich darum, juristische Güter festzuschreiben. Dazu gehören Konzepte wie die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die in der Vergangenheit politisch sehr relevant waren. Uns ging es darum, weiteren Dingen den gleichen Rang einzuräumen: der Ernährungssouveränität, dem Saatgut, den Flüssen. Dazu gehört auch die Sorge füreinander. Auf dieser Ebene konnten wir bei den Menschen viel Bewusstsein schaffen.

Konnten Sie auch andere Konventsmitglieder von diesen Ansichten überzeugen? In Gesprächen und Verhandlungen haben wir es geschafft, Überzeugungsarbeit zu leisten und wichtige Punkte durchzubringen. Da ging es zum Beispiel um das traditionelle Verständnis vieler Linker, dass man soziale Rechte nur durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanzieren könne. Wir aber sprechen nicht einmal von natürlichen Ressourcen, sondern von Gemeingütern. In der Umweltkommission haben sie erst einmal alle unsere Vorschläge abgelehnt. In den Zeitungen wurde sich über uns und unsere post-extraktivistischen Ideen lustig gemacht. Wir seien doch nur Hippies. Wir haben also gleich an zwei Fronten gekämpft: einerseits mit Klimawandelleugnern aus der konservativen Rechten. Andererseits, und das war traurig, mit Linken, die der Meinung waren, unsere Auffassung sei doch nur Mystik. Dabei sind es wissenschaftliche Fakten: Dass uns das Wasser ausgeht, hat sich doch niemand ausgedacht. Es war ein harter Kampf, aber am Ende kamen viele unserer Vorschläge knapp durch. Insgesamt fühle ich aber, dass in dem Prozess Legitimität erreicht wurde. Umweltaspekte waren eines Ihrer wichtigsten Themen. Welchen Wert hat die Umwelt nun in der neuen Verfassung? Einen sehr großen. Schon im ersten Artikel der Verfassung steht, dass Chile ein ökologischer Staat ist, zu dessen wichtigsten Werten der Respekt vor den Rechten der Natur und unserer Abhängigkeit von ihr zählen. Damit ist gemeint, dass die Natur keine Ressource ist, aus der wir unbegrenzten wirtschaftlichen Vorteil für Wachstum ziehen können. Stattdessen ist es wichtig, zu betonen, dass die Natur Rechte hat, die der Staat und die Menschen respektieren und gewährleisten müssen. Wir sind Teil der Natur und können ohne sie nicht leben. Deshalb haben Themen wie Ernährung und Wasser genauso große Bedeutung wie die wirtschaftliche Stabilität. Und schließlich ist es die erste Verfassung, die vor dem Hintergrund des Klimawandels geschrieben wurde. Außerdem wurden unterschiedliche Arten natürlicher Gemeingüter festgelegt. Zum Beispiel jene, die sich Menschen aneignen können, wie Urwälder und Feuchtgebiete. Diese werden unter der neuen Verfassung jedoch unter dem Schutz des Staates stehen. Man kann beispielsweise ein Stück Land mit Urwald kaufen, diesen jedoch nicht einfach abholzen, denn das schadet der Natur. Und dann gibt es noch jene Gemeingüter, die sich niemand aneignen kann: Wasser und Luft. Wie sollen diese Prinzipien konkret umgesetzt werden? Es gibt Richtlinien, um beispielsweise Feuchtgebiete und Urwälder zu schützen oder generell Wasserkreisläufe und Gletscher als Wasserquellen. Deshalb würden Bergbauaktivitäten in diesen Regionen verboten werden. Außerdem ist eine Flächennutzungsplanung vorgesehen, die eine wichtige Neuorganisation der Bodennutzung zur Erholung der Ökosysteme vorsieht. Denn die meisten Flächen werden derzeit für Abbautätigkeiten genutzt, darunter Bergbau, Forstwirtschaft und Energie. Wir haben jedoch auch aus Erfahrungen mit den neuen Verfassungen in Ecuador und Bolivien gelernt. Denn in Ecuador sind zwar die Rechte der Natur in der Verfassung verankert, im Amazonasgebiet wird aber überall nach Erdöl gebohrt. Und in Bolivien, wo die Rechte der Pachamama anerkannt wurden, kam mit der neuen Verfassung der Wasserkrieg. Deshalb ist es einerseits wichtig, konkrete Institutionen zu schaffen. Andererseits muss es möglich sein, die zugesicherten Rechte auch einzufordern. Bei reinen Zusicherungen zu bleiben, ist sehr gefährlich. Es braucht auch eine praktische Ebene und konkrete Regeln. Sind denn im Verfassungsentwurf konkrete Institutionen vorgesehen? Wir haben durchgebracht, dass es Umweltgerichte in allen Regionen des Landes geben wird. Bisher gab es nur drei. Allerdings war es bisher so: Wenn jemand deinen Fluss verseucht, hast du keinen Anspruch auf kostenlosen Rechtsbeistand, wenn du juristisch gegen die Verschmutzung vorgehen willst. Wir fanden, das verletzt viele Rechte. Außerdem wollen wir nicht, dass es von einer NGO abhängt, wer vor Gericht gehen kann, sondern dass der Staat dafür zuständig ist, die Natur und die Gemeinschaften zu verteidigen. Deswegen haben wir die öffentliche Ombudsstelle für Natur geschaffen, die diese rechtliche Vertretung gerichtlich und außergerichtlich kostenlos übernehmen wird. Welche Bestimmungen enthält die Verfassung zum Thema Wasser? Um das Thema Wasser haben wir uns besonders gekümmert. Wir haben ein Wasserstatut in der Verfassung verankert, in dem festgelegt ist, dass mit Wasser nicht gehandelt werden kann. Außerdem wird es Nutzungsrechte geben, die sowohl eine soziale als auch eine ökologische Funktion erfüllen müssen. Wir haben einen institutionellen Rahmen entwickelt, der für die Vergabe der Wassernutzungsrechte auf der Grundlage dieser Prinzipien verantwortlich sein wird. Dieser Rahmen sieht auch die Einrichtung von Räten für Wassereinzugsgebiete vor, bei denen es sich um gemeinschaftliche und partizipative Gremien handelt, die Entscheidungen über Wasser treffen. Außerdem wird das Trinkwasser in ländlichen Gebieten geschützt. Dort haben bisher die meisten Gemeinden kein fließendes Wasser und keine Abwassersysteme. Die neue Verfassung sieht hier die Gründung von Wassergenossenschaften vor. Unter welchen Bedingungen haben Sie im Konvent an der Verfassung gearbeitet? Es war ein schneller und selbstverwalteter Prozess, denn die Regierung hat uns keine Ausstattung zur Verfügung gestellt, nicht einmal einen Stift oder einen Schreibtisch. Wir hatten zum Beispiel einen Raum von etwa zwölf Quadratmetern für zwölf Teams, ohne Klimaanlage und Heizung. Die Delegierten konnten nirgendwo sitzen, keine Treffen abhalten. Es gab einige Gemeinschaftsräume, die reserviert werden konnten, aber die befanden sich weiter weg. Am Anfang war viel davon die Rede, dass es eine Kinderbetreuung geben könnte. Daraus wurde aber nichts. Am Ende hat dieser Prozess gigantische persönliche Belastungen verursacht. Viele Delegierte erzählten, dass ihre Kinder an Depressionen leiden, weil sie ihre Mütter und Väter nie sahen – bis hin zu Suizidversuchen. Hinzu kam noch der Druck aus Medien und Politik und die fast tägliche Arbeit bis zwei Uhr morgens. Und wir sind direkt von der Pandemie in den Konvent gekommen: mit hoher Arbeitslast und der wenigen Unterstützung, die wir hatten. Das bedeutete viel Stress und viel Gewalt.

Gewalt? Ja, während des Verfassungsprozesses habe ich viel Gewalt erlebt. In den sozialen Netzwerken bekam ich teilweise 300 Nachrichten am Tag, die mir Angst machen sollten. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine schreckliche Morddrohung. Letztlich wollen sie, dass wir schweigen. Aber das tue ich nicht, im Gegenteil: Ich habe alles öffentlich gemacht.

Welche Strategien wendet der rechte Flügel derzeit an, um die Verabschiedung der neuen Verfassung zu verhindern? Sie schüren überall Misstrauen und verbreiten Fake News. In den Straßen von Santiago hängen Plakate mit Slogans wie: „Die Verfassung ist eine Lüge“. Gestern hat der Senator Felipe Kast im Radio die schamlose Lüge verbreitet, dass die Verfassung eine Abtreibung bis zum neunten Monat erlauben wird. Das geht jeden Tag so. Es ist psychologische Kriegsführung.

Wie bereiten Sie sich auf das Referendum vor? Wir setzen darauf, die Basis zu mobilisieren. Da wir in Lateinamerika die Dinge immer in letzter Minute erledigen (lacht), hoffen wir, dass es in den verbleibenden zwei Monaten eine große soziale Mobilisierung geben wird. Dabei zählen wir auf die bestehenden Netzwerke: die Bewegungen, Gewerkschaften und so weiter. Es war schwierig, Wahlkampf zu machen, bevor der Verfassungstext fertig war. Wir konnten schlecht sagen: „Ja, es ist alles gut“, solange noch Abstimmungen ausstanden. Die Rechten dagegen sagen schon immer, dass alles an der neuen Verfassung schlecht ist. Und jetzt müssen wir auf die Straße gehen. Am wichtigsten ist natürlich Santiago, dort konzentrieren sich die meisten Stimmen. Ich lebe eigentlich in der ländlicheren Araucanía im Süden, aber während der Kampagne werde ich an beiden Orten sein. Um die ländlichen Gebiete zu erreichen, ist das Radio der beste Weg.

Glauben Sie, dass das Apruebo, also das „Ja“ zur Verfassung, gewinnen wird? In Chile gibt es viele Menschen, die rechts sind. Historisch betrachtet lag das Wahlergebnis aber meist bei 60 zu 40 für die Linke. So war es beim Referendum über die Absetzung Pinochets und auch jetzt bei Borics Wahl. Wir setzen darauf, diese Menschen zu mobilisieren. Es gibt noch eine große Zahl von Unentschlossenen, und wir glauben, dass sie für die Verfassung stimmen werden, sobald sie wirklich wissen, was in ihr steht. Aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit und wenig Geld.


MANUELA ROYO LETELIER ist Anwältin, Historikerin sowie Aktivistin und Sprecherin der Bewegung Modatima, die sich in Chile für Wasser und Umweltschutz engagiert. Im Jahr 2021 wurde Royo im Distrikt 23 in der Region Araucanía zur Vertreterin im Verfassungskonvent gewählt. Dort übernahm sie zunächst die Koordination der Übergangskommission für Menschenrechte, bevor sie in der thematischen Kommission für Justizsysteme, autonome Kontrollorgane und Verfassungsreform mitarbeitete, in der sie sich insbesondere für Geschlechterparität und Plurinationalität einsetzte.


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