Die amerikanische Kontinentalexpansion ist voller Massaker an der indigenen Bevölkerung gewesen. Unter der Aufsicht der amerikanischen Armee sind Tausende von Indigenen elend umgekommen. Diese Verschickungen erinnerten an die Todesmärsche in die syrische Wüste, mit denen die Jungtürken das armenische Volk gezielt vernichten wollten. Und Biden erklärte die seit 1915 betriebene Auslöschung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern als Genozid.
Keine hundert Tage im Amt, setzte Joe Biden Ende April ein wichtiges geschichtspolitisches Zeichen. Als erster amerikanischer Präsident anerkannte er die vom jungtürkischen Regime im Osmanischen Reich seit 1915 betriebene Auslöschung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern als Genozid.
Mit der Einlösung dieses Wahlkampfversprechens berief er sich auf die am 9. Dezember 1948 von der Uno-Generalversammlung verabschiedete Genozidkonvention. Mit diesem Schlüsseldokument des Völkerrechts hatten sich die USA lange schwergetan.
Während des Kalten Kriegs hatte eine konservative Opposition im Senat die Ratifizierung verhindert, da sie befürchtete, das Land könnte wegen der Sklaverei in den Südstaaten, der Verdrängung und Dezimierung der First Peoples oder der beiden Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki selbst juristisch belangt werden. Erst im Herbst 1988 setzte sich der Senat über diese Bedenken hinweg. Bis heute birgt das Thema erinnerungspolitischen Konfliktstoff.
Amerika, Nutzniesser eines Völkermords?
Wenige Tage nach Bidens Erklärung erschien in der «Washington Post» ein Gastbeitrag. Darin argumentierten die Politikwissenschafter Glenn T. Morris und Simon Maghakyan, dass für die USA der Zeitpunkt gekommen sei, den Blick auf das Unrecht zu richten, das die Siedlerrepublik den First Peoples seit 1776 angetan habe.
Diese Verschickungen erinnerten an die Todesmärsche in die syrische Wüste, mit denen die Jungtürken das armenische Volk gezielt vernichten wollten. Kurz, auch die Amerikaner seien «Nutzniesser eines Völkermords», und nur ihrer Amnesie wegen seien die «systematischen Verbrechen gegen die indigenen Nationen» nie staatlich anerkannt worden. Ohne dass diese geschichtspolitische Provokation eine nationale Debatte auslöste, verpuffte sie bereits im Ansatz.
Denn in ihrem Artikel bezogen die Autoren eine Extremposition, die in der Geschichtswissenschaft nur Aussenseiter vertreten. Freilich bestreitet die grosse Mehrzahl der Universitätshistoriker auch nicht, dass die Gesamtzahl der Indianer von geschätzten 5 bis 7 Millionen um 1500 dramatisch auf 237 000 im Jahr 1900 einbrach.
Im Vergleich zu der Jahrtausende währenden präkolumbischen Epoche wirkten sich die 500 Jahre der euro-amerikanischen Kolonisation in Nordamerika für die First Peoples verheerend aus.
Durch die Westexpansion und die Kolonisierung des Landes gingen Millionen von Indigenen zugrunde: durch eingeschleppte Krankheiten, Hungersnöte, Sklavenarbeit und Vernachlässigung in den Reservaten. Aber auch durch Angriffe auf Dörfer, durch Massaker, Umsiedlungen und später in den als Boarding-Schools bezeichneten Umerziehungsinternaten.
Natürlich gehört zum Gesamtbild, dass die amerikanische Kavallerie wiederholt fürchterliche Blutbäder unter den First Peoples anrichtete, bei Tohopeka (1814) und am Clear Lake (1850), aber auch am Marias River (1870) und beim Wounded Knee Creek (1890). In der Forschung wird über diese Gewaltakte als «regionale Genozide» jüngst verstärkt diskutiert.
In den USA ist die Aufarbeitung dagegen über Anfänge nicht hinausgekommen. Die Boarding-Schools sind zwar wissenschaftlich gut erforscht, doch eine breite gesellschaftliche Debatte hat es über sie bisher nicht gegeben.
In Amerikas «Heartland» werden weiterhin Pioniermythen hochgehalten, die einer schonungslosen Betrachtung der Siedlerrepublik und ihrer Indianerpolitik im Weg stehen. Noch im vergangenen Sommer nahm Donald Trump den Schauspieler und Westernhelden John Wayne in Schutz, der 1971 in einem Interview kundgetan hatte, dass er an die «weisse Überlegenheit» glaube.
Doch die These von einer totalen Amnesie trifft nicht zu. Als das Bureau of Indian Affairs im Jahr 2000 sein 175-jähriges Bestehen feierte, nahm Kevin Gover, der Innenstaatssekretär für indianische Angelegenheiten, das Jubiläum zum Anlass, sich im Namen seiner Behörde für alles Leid zu entschuldigen, das diese ab dem frühen 19. Jahrhundert über die indianischen Nationen gebracht hatte.
In einer Rede vor Regierungsvertretern und Führern der indigenen Nationen drückte er sein tiefes Bedauern über die von seiner Behörde zu verantwortende «Hinterlassenschaft von Rassismus und Unmenschlichkeit» aus, die Zwangsumsiedlungen, Massaker, Landraub und kulturelle Auslöschung einschliesse.
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