Hätte der russisch-ukrainische Krieg abgewendet werden können? Hätte die einfache Erklärung ausgereicht: „Die Ukraine wird zu keinem Zeitpunkt der Nato beitreten“?
Ukraine: Der vielleicht vermeidbarste Krieg der Geschichte
Eine neue europäische Sicherheitsarchitektur sollte gesamteuropäisch und nicht transatlantisch sein. Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ein Kommentar.
07.04.2024 18:30 Uhr
Alle Seiten sind in Ecken gedrängt, aus denen sie ohne erheblichen „Gesichtsverlust“ nicht herausfinden.
Am Grund der Spannungen liegt die unausgewogene, unvollständige europäische Friedensordnung, die nach dem Ende des ersten Kalten Krieges um 1990 entstand. Seitdem hat sich das Instrumentarium der Konfliktbewältigung so sehr verschlechtert, dass Krieg wie der einzige Weg aus der Sackgasse erscheint. Diplomatie wird als Beschwichtigung abgetan, Verhandlungen als Zugeständnis an den Feind – eine reichlich bizarre Art, internationale Auseinandersetzungen zu regeln.
Die Situation erinnert an 1914, als eine lange Friedenszeit und wachsender Wohlstand vergessen ließen, dass es nur eines Funkens bedurfte, um Europa in ein Blutbad zu stürzen. Auch unser Glaube, Europa habe das Geheimnis des nachhaltigen Friedens gefunden, hat sich als falsch erwiesen. Die Rückkehr des Krieges 2022 zeigt, dass die europäischen Dämonen nicht gezähmt sind.
Ukraine-Krieg: Kaum Spielraum für Diplomatie
Russland mag geblufft haben, als es im Dezember 2021 zwei Sicherheitsverträge vorschlug. Der politische Westen hat die Warnungen aus Moskau jedoch ignoriert und das Prinzip der offenen Tür bei der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine mit aller Kraft verteidigt. Russland betrieb Zwangsdiplomatie, und die atlantischen Mächte sahen darin nur ein neues 1938. Das eigentliche Problem blieb unerkannt – das Fehlen einer integrativen europäischen Sicherheitsordnung, wie sie Michail Gorbatschow schon Ende der 1980er im Sinn hatte. Das führte zuerst zu einem zweiten Kalten Krieg und dann zum Rückfall in den zwischenstaatlichen Krieg alter Schule.
Hätte der russisch-ukrainische Krieg abgewendet werden können? Hätte die einfache Erklärung ausgereicht: „Die Ukraine wird zu keinem Zeitpunkt der Nato beitreten“? Am Ende waren die Westmächte bereit, die physische Existenz der Ukraine für deren Recht auf einen Nato-Beitritt aufs Spiel zu setzen. So wurde der vielleicht vermeidbarste Krieg der Geschichte unausweichlich.
Eine künftige Sicherheitsarchitektur muss gesamteuropäisch sein, nicht transatlantisch. Europa muss sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, aber es muss ein anderes Europa sein – eines, das den langen Schatten des Kalten Krieges endlich hinter sich lässt.
Richard Sakwa, Jg. 1953, ist emeritierter Professor für russische und europäische Politik an der Universität von Kent. Er hat mehrere Bücher zu sowjetischen, russischen und postkommunistischen Themen veröffentlicht, beispielsweise „Frontline Ukraine“ (2015)
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